Gleich und Gleich gesellt sich immer lieber - Entmischungstendenzen in der Zürcher Parteienlandschaft
Sechzig Jahre, bis ins Jahr der letzten Zürcher Seegfrörni muss man zurückblicken, bevor man auf eine Kantonsratswahl stösst, welche die Parteienzusammensetzung noch weniger veränderte als die heurige. Unter der erstarrten Oberfläche des gesamtkantonalen Resultats gibt es aber durchaus interessante langfristige Entwicklungstendenzen wie meine Analyse der Gemeinderesultate (Zürcher Parteiensystem in Bewegung) zeigt.
Die Parteiwählerschaften entmischen sich räumlich nämlich zusehends, was umgekehrt impliziert dass die Gemeinden politisch tendenziell homogener werden: Eine Tendenz, die zumal die beiden Zentren, Zürich und Winterthur von ihrem Umland absetzt. Besonders die beiden grossen Linksparteien werden immer urbaner - mittlerweile wohnen gut die Hälfte ihrer Wählerschaften in der Stadt Zürich, analoge, wenn auch weniger ausgeprägte Tendenzen gibt es auch bei der GLP und der FDP - während bei der SVP der Anteil der städtischen Wähler stetig abnimmt.
Duncans Dissimilarity Index (siehe Grafik) fasst die Segregationstendenz von Parteienpaaren in eine Masszahl - die zudem auch noch eine sehr anschauliche Interpretation hat: Er zeigt nämlich, welcher Anteil der Wählerschaft der Partei A umziehen müsste, um gleich verteilt zu sein wie jene von B. So hätte 2007 erst ein Fünftel (22%) der SP-Wählerschaft dislozieren müssen, um gleich verteilt zu sein wie jene der SVP – 2023 ist es bereits ein Drittel (33%, vgl. den Verlauf des Index der SVP in der Spalte SP). Das gleiche gilt selbstverständlich auch in umgekehrter Richtung.
Von der Ideologie auf den Wahlzetteln
Der getwitterte Smartspider ist heute fast so etwas wie der Zutrittsbadge zur politischen Arena: Er beruht auf der Beantwortung des umfangreichen smartvote-Fragebogens, den auszufüllen zu den fraglosen Pflichten eines jeden eidgenössischen Politikers auf allen föderalen Stufen gehört. Diese 75-dimensionalen Datenpunkte können - natürlich nicht ganz verlustfrei - auf zwei reduziert werden, und liefern so eine eingängige Verortung des politischen Personal in der "smartmap" einer "Karte".
Bislang wurde diese Verortung der Kandidaturen gerne benutzt um mittelbar die ideologische Positionierung der Parteien zu charakterisieren, oft auf der Grundlage der Proporzwahllisten, die sie einreichen. Der magische Akt des Einwurfs in den Briefkasten wandelt die Liste aber zum Wahlzettel, und damit zur politischen Willensbekundung. Im einfachsten Fall, unverändert eingelegt, signalisiert er dessen Einverständnis mit der Kandidaturenselektion der Parteieliten. Soweit, so trivial: Interessant wird es aber, wenn der Wahlzettel durch Streichen, Kumulieren oder sogar Panaschieren verändert wird.
Genau hier setzt meine neue - und meines Wissens auch neuartige - Publikation "Politische Profile veränderter Wahlzettel" an: Sie kombiniert die Wahlzetteleinzeldaten, die im Kanton Zürich beim Abtippen der veränderten Zettel durch die Heerscharen in den kommunalen Wahlbüros bei der Resultatermittlung entstehen, mit den smartmap-Koordinaten der Kandidaturen die darauf stehen - und charakterisiert so nicht die Parteilisten und Parteien, sondern die Wählerindividuen. Oder, wie man vermuten darf, zumindest jene, die politisch besonders interessiert sind, und deshalb die nicht geringe Mühsal der handschriftlichen Modifikation des Zettels auf sich nehmen.
Ein Menschenleben Stimmbeteiligung
Die Abstimmungsbeteiligung vom einen Termin zum nächsten "lärmt": Die Schwankungen sind erheblich, langfristige Trends nur schwer zu erkennen. In meiner neuen Publikation (Stimmbeteiligung: eine Langfristperspektive - Die Entwicklung der Abstimmungsbeteiligung im Kanton Zürich 1945–2022) geht es aber gerade darum: das "Signal" herauszuschälen.
Erstaunlich ist dabei, dass es im Dreivierteljahrhundert seit dem Ende des zweiten Weltkriegs auf einer Makroebene im Grunde genommen nur zwei wesentliche Einflussgrössen gab: einerseits der "kalte" schleichende Verfall der Stimmpflicht, bzw. von deren Sanktionierung, und die Einführung des Frauenstimmrechts 1971 - wobei bei letzterem nicht sicher ist, ob es direkt - über die anfänglich deutliche tiefere Beteiligung der Frauen - oder indirekt wirkte, indem die Erweiterung des Elektorats der Durchsetzung einer ohnehin schon fraglichen Stimmpflicht den Todesstoss versetzte- faktisch zumindest, denn aus dem Gesetz verschwand sie erst 1984.
Diese Publikation war auch das Demonstrationsobjekt einiger Gedanken zur Rolle von Visualisierungen bei Erkenntnisgewinn und -vermittlung, die ich an einem Workshop der Zentralbibliothek Zürich Historische Daten-Visualisierung in Wissenschaft, Kultur und Medien am 3.11.2022 unter dem Titel "Zur Pragmatik der Visualisierung - Überlegungen aus der Praxis" präsentierte.
Wie, warum und wo wächst der Kanton Zürich?
Am Zürcher Gemeindeforum 2021 des kantonalen Gemeindeamts, einer alljährlichen Veranstaltung für Gemeindevertreter aus allen Ecken des Kantons, hatte ich Gelegenheit für einmal mit dem grossen Pinsel zu Werke zu gehen: mein Referat "Wie, warum und wo wächst der Kanton Zürich" versuchte diese Fragen in der gesetzten Frist von knappen zwanzig Minuten zu beantworten:
Und wie halten's die Zürcher mit der Transzendenz?
Das ist so etwas wie ein first für mich: Denn die Transzendenz, also was sich definitionsgemäss der Empirie entzieht ist sonst nicht so mein Thema als Sozialwissenschaftler. Aber man kann natürlich die Leute zu ihrem Verhältnis dazu befragen, wie dies in der ESRK, der Erhebung für Sprache, Religio und Kultur des Bundesamts für Statistik geschieht. Diese Quelle liegt meiner Publikation "Religiosität und Spiritualität heute - Eine Analyse der Erhebung zur Sprache, Religion und Kultur 2019 für den Kanton Zürich" zugrunde. Darin habe ich versucht, für einmal nicht den herkömmlichen Ansatz zu wählen, bei dem die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft im Mittelpunkt steht, und entsprechend auch den Referenzrahmen, das dominierende Kreuzungsmerkmal der Auswertung bilden. Der Ansatz war vielmehr der einer davon unabhängigen Typenbildung, auf der Basis der abgefragten Grundeinstellungen zu Religiosität und Spiritualität, also in etwa der gängigen religionssoziologischen Kategorien des "belonging" und "believing". Auf dieser Grundlage lassen sich vier Idealtypen unterscheiden:
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