Schlappe in Zürich, Schlappe in Neuenburg: Für den Tagesanzeiger heute Anlass genug, über die Mühsal der FDP  und ihre Ursachen zu mutmassen.   Allerhand  Gründe werden da bemüht – der falsche Parteipräsident, die falschen Kandidaten, der aktuelle Unmut über die Abzocker. Das Problem mit diesen Erklärungsansätzen ist, dass  es sich dabei um Oberflächenphänomene, das Rauschen des tagtäglichen Politgeschehens handelt. Der tiefere Grund, das Signal, ist ganz einfach:

Die Wählerbasis der FDP schrumpft, und sie tut das, trotz aller Faxen ihrer Exponenten, zwar langsam aber wahr­schein­lich unaufhaltsam. Natürlich zeigen die Wähleranteile nicht überall nach unten, aber die langfristige Tendenz ist unverkennbar. Wenn  die Wahl von Exekutivmitgliedern nicht mehr gelingt, hat das letztlich damit zu tun. Persönlichkeitswahl hin oder her. Sinkt der Wähleranteil, so wird der kampflos verfügbare Stimmenpool kleiner, etwas nachhinkend schrumpft dann auch jener der geeigneten Kandidaturen. Welcher vernünftige Mensch will sich schon bei einer Verliererpartei engagieren, um sich dort mit den nervösen Etablierten um die schrumpfenden Pfründe zu balgen? Zwist gehört zu den Nebengeräuschen des Niedergangs – und manchmal auch des Aufstiegs, aber aus anderen Gründen. 

Das Problem der FDP ist, dass es sich bei ihr um eine klassische Milieu-Partei handelt und dieses Milieu seit Jahren am Schrumpfen ist. Sei es, weil es durch die gesellschaftliche Entwicklung nicht mehr alimentiert wird, sei es, weil es am andern Ende der Altersverteilung ganz einfach allmählich auch wegstirbt (Man schaut ja immer gerne auf die Jungwähler: der Altwähler ist aber ebenso wichtig wenn nicht wichtiger, weil treu und nicht stimmfaul). Das Habitat der FDP ist der habliche, engagiert-staatstragende, in der Schweizer Wirtschaft verwurzelte obere akademische Mittelstand, Führungskräfte in der Privat­wirt­schaft, Anwälte, Freie Berufe, im Kanton Zürich plakativ repräsentiert durch die „alte“ Gold- und Pfnüselküste - und, etwas zugespitzt, den NZZ-Leser.  Dieses Habitat droht unter dem Druck der Globalisierung zu verschwinden, weil sich der wirtschaftliche Erfolg, der eine der identitätsbildenden Klammern dieser ge­sellschaftlichen Gruppe war, in der Tendenz nur noch sichern lässt, indem man an ihr aktiv teilhat, was dann die Bedeutung der - und das Engagement in- schweizerischen Angelegenheiten zu mindern droht.   

Im Grundsätzlichen vergleichbar ist die Situation der FDP mit jener der CVP: Befragungen zeigen immer wieder, wie stark diese Partei noch immer in ihrem katholischen Milieu verwurzelt ist, sei es in ihren Sonderbunds-Kernlanden, sei es in der Diaspora, wie z. B. im Kanton Zürich. Ein Milieu das, nach allem was man weiss,  wie jenes der FDP am Verschwinden ist.  

Das Verschwinden eines Milieus bedeutet freilich nicht unbedingt den Untergang der zugehörigen Partei: Instruktiv ist der Vergleich mit zwei anderen alten Parteien, die es noch immer gibt: der SVP und der SP. Sie haben es beide geschafft, ein neues Milieu zu finden, so wie ein Parasit einen sterbenden Wirt wechselt.  Die SVP hat sich vor etwa einem Vierteljahrhundert unter der Führung Blochers von der Bauern- und Gewerbepartei zur Partei des Wutbürgers, der Globalisierungsverlierer gemausert. Damit ist kein Werturteil verbunden: die Aufgabe der Parteien in einer Demokratie ist es, die wichtigen Strömungen in der Bevölkerung aufzuspüren, sie  zu benennen und damit greifbar zu machen, und schliesslich im politischen Prozess auch zu repräsentieren. Motorisiert wird dieses Bestreben durch den grundmenschlichen Trieb nach Sicherheit und Anerkennung, dem Wunsch einmal Erreichtes, Amt und Würde behalten zu wollen, was bei Politikern bekanntlich die Wiederwahl und damit die Existenz von Wählern voraussetzt.

Auch die SP hat das  geschafft: die einstige Arbeiterpartei ist zur Partei eines gut ausgebildeten urbanen Mittelstandes, der staatsnahen Kultur- und Sozialindustrie, mutiert. (der sozio-kulturellen Spezialisten im Jargon). Es handelt sich dabei um ein gesellschaftliches Segment mit gemeinsamen Erfahrungen und Werten  - in der Wolle gefärbte inglehartsche Postmaterialisten. Dieses Segment ist im vergangenen halben Jahrhundert, im Zuge der Bildungsexpansion erst entstanden, einer Entwicklung, die breiten Schichten einen „Abschluss“ jenseits einer Lehre ermöglicht hat.  Dieses Segment muss die SP sich zwar mit den Grünen teilen,  was je nach Themenkonjunktur Wellenbewegungen bei den Wähleranteilen verursacht. Es gibt aber doch eine recht stabile Basis ab, gerade in den grossen Städten,  wo die Bindung teilweise eine Tendenz zur klientelistischen Verfilzung aufweist – das Zürcher Genossenschaftswesen lässt grüssen.  

Es sei hier die Behauptung gewagt: langfristiger Wahlerfolg setzt letztlich ein stabiles oder im besten Fall sogar wachsendes Milieu voraus. Ein gesellschaftliches Segment, dass sich durch ähnliche ökonomische Vor­aussetzungen oder eine gemeinsame Konstruktion der Welt bezüglich Fakten (Was ist, wie hängen die Dinge miteinander zusammen?) wie Normen (was ist gut und richtig?) und im Idealfall beides auszeichnet. Nur unter dieser Voraussetzung  gibt es wirklich etwas zu repräsentieren und zu vertreten, kann sich eine Identitätsbeziehung bilden, die eine Wählerschaft mit einer Partei solide verknüpft.

Was man der FDP unter diesen Umständen raten will: Vielleicht am ehesten in Anstand und Ehren, prinzipienfest unterzugehen? Ein schwacher Trost mag sein, dass nichts ewig währt, dass es auch den anderen Parteien mittelfristig nicht besser gehen muss. Die Wählerschaft der SVP ist auch schon recht alt (sie kann allerdings auch bei der Jugend punkten). Ob die weltoffene Idylle zur Linken Bestand hat, und sich nicht gelegentlich an den ökonomischen Realitäten ihres Elektorats ("Wohnungsnot!!") zu reiben beginnt,  scheint mir zumindest fraglich. Und die neuen Parteien? Allen voran die glp? Da scheint man von beiden Seiten – der Parteielite wie dem Elektorat – noch auf der Suche zu sein, und ob sie identitätsbildenden Erfolg haben wird, ist vorderhand offen.